Von einem Arzt/einer Ärztin kann nicht verlangt werden, sämtliche Krankengeschichten aus der Vergangenheit durchzulesen
Mögliche Verhinderung eines Suizids
Die Patientin einer geburtshilflichen Abteilung einer Krankenanstalt des beklagten Rechtsträgers beging zwei Tage nach der Geburt ihres Kindes Suizid, indem sie sich aus dem Fenster ihres Krankenzimmers stürzte. Die Patientin hatte bereits früher Suizidversuche unternommen. Sie berichtete einer behandelnden Turnusärztin davon, die daraufhin ein psychiatrisches Konsil anforderte, ohne allerdings in der Anforderung ausdrücklich auf den Umstand hinzuweisen, dass die Patientin von früheren Suizidversuchen berichtet hatte.
Der beigezogene psychiatrische Konsiliararzt, der mit der Patientin ein ausführliches Gespräch führte, stellte dabei auch die Frage nach früheren Suizidversuchen. Diese Frage wurde sowohl von der Patientin als auch ihrem anwesenden Ehegatten verneint. Die früheren Suizidversuche wären allerdings aus zugänglichen Krankengeschichten der Vergangenheit herauszulesen gewesen.
Laut OGH keine Verpflichtung zur umfassenden Überprüfung der Patientenäußerungen durch die Krankengeschichte
Der OGH bestätigte die Rechtsansicht der Vorinstanzen, die die Klage des Ehegatten und der Kinder der verstorbenen Patientin auf Schadenersatz abgelehnt hatten.
Der OGH teilte die Rechtsansicht der Vorinstanz, dass die Turnusärztin aus der Sicht ex ante darauf vertrauen habe dürfen, dass die Patientin, die ihr gegenüber von vergangenen Selbstmordversuchen berichtet hatte, diesen Umstand auch dem zugezogenen Konsiliararzt offenlegen würde. Es sei daher nicht vorwerfbar gewesen, dass auf einen ausdrücklichen Hinweis auf die berichteten Selbstmordversuche in der Konsiliaranforderung verzichtet wurde.
Der OGH teilte auch die Rechtsauffassung der Vorinstanz, dass der beigezogene psychiatrische Konsiliararzt nicht verpflichtet war, die ausdrückliche Verneinung früherer Selbstmordversuche durch die Patientin und ihren Ehegatten anhand früherer Krankengeschichten nachzuprüfen, auch wenn ihm diese zugänglich waren.
OGH 28.10.2024, 3 Ob 154/24d
Hon.-Prof. Dr. Felix Wallner
