Anspruch auf Urlaubsersatzleistung bei unberechtigtem vorzeitigen Austritt des Dienstnehmers
Unberechtigter vorzeitiger Austritt
Die klagende Dienstnehmerin war als Reinigungskraft bei der Beklagten beschäftigt. Am 21. Dezember 2018 sollte sie um 21:00 Uhr ihren Dienst antreten. Sie befand sich an diesem Tag auf dem Heimweg aus dem Ausland und hatte eine Autopanne. Um ca. 10:50 Uhr rief sie bei ihrem Dienstgeber an um bekanntzugeben, nicht rechtzeitig kommen zu können. In der Folge erhielt sie eine SMS vom Dienstgeber mit der Ankündigung, dass sie gekündigt werde, wenn sie den vereinbarten Dienst nicht antrete. Die Klägerin traf erst gegen Mitternacht am Arbeitsort ein, nahm den Dienst jedoch nicht auf, sondern setzte sich an die Bar im Lokal des Dienstgebers und bestellte ein Getränk. Der Geschäftsführer des Dienstgebers nahm die Klägerin nicht wahr. Auch am Folgetag trat die Dienstnehmerin den Dienst nicht an, weil sie glaubte, durch das SMS gekündigt worden zu sein.
Am 22.12. kam die Dienstnehmerin ins Büro des Geschäftsführers, gab ihre Arbeitsbekleidung zurück und sagte, dass sie nicht mehr in die Arbeit komme. Sie wurde daraufhin am 27.12. mit Stichtag 20.12. von der Beklagten bei der Sozialversicherung mit dem Grund „unberechtigter vorzeitiger Austritt“ abgemeldet.
Erst- und Berufungsgericht weisen die Klage ab
Die Dienstnehmerin erhob in weiterer Folge Klage und begehrte unter anderem die Auszahlung einer Urlaubsersatzleistung. Der beklagte Dienstgeber wendete ein, dass die Klägerin unberechtigt vorzeitig ausgetreten sei, weshalb ihr gemäß § 10 Abs 2 UrlG keine Urlaubsersatzleistung zustünde. Sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht gingen von einem unberechtigten Austritt der Klägerin aus und wiesen das Klagebegehren unter Berufung auf § 10 Abs 2 UrlG ab. Die Klägerin erhob dagegen Revision an den Obersten Gerichtshof.
Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH
Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wurde im Hinblick auf ein beim Europäischen Gerichtshof anhängiges Vorabfeststellungsverfahren zunächst unterbrochen. Das Vorabentscheidungsverfahren drehte sich um die Frage, ob § 10 Abs 2 des Österreichischen Urlaubgesetzes, in welchem festgelegt wird, dass keine Urlaubsersatzleistung bei Vorliegen eines unberechtigten vorzeitigen Austritts zusteht mit Art 7 der Arbeitszeitrichtlinie iVm Art 31 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) vereinbar ist.
In seiner Entscheidung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens hielt der EuGH fest, dass Art 7 der Richtlinie in Verbindung mit Art 31 Abs 2 der GRC dahingehend auszulegen sind, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet. Der nationale Richter braucht nicht zu prüfen, ob der Verbrauch der Urlaubstage, auf die der Arbeitnehmer Anspruch hatte, für diesen unmöglich war.
OGH bejaht unmittelbare Wirkung des Art 31 GRC
Aufgrund dieses Erkenntnisses des EuGH hielt der OGH (8 ObA 99/21y) fest, dass der in § 10 Abs 2 Urlaubsgesetz normierte Entfall des Anspruchs auf Urlaubsersatzleistung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch unberechtigten Austritt des Arbeitnehmers ohne wichtigen Grund in Widerspruch zu Art 7 Abs 2 der Arbeitszeitrichtlinie und Art 31 der GRC steht, die für jeden Arbeitnehmer einen bezahlten Mindesturlaub von vier Wochen vorsieht. Im horizontalen Rechtsverhältnis zu einem privaten Arbeitgeber kann sich der Arbeitnehmer zwar nicht unmittelbar auf die Richtlinie berufen, im Anwendungsbereich des Unionsrechts entfaltet das Grundrecht auf bezahlten Urlaub nach Artikel 31 Abs 2 GRC aber unmittelbare Wirkung, sodass sich der Einzelne direkt darauf stützen kann und nationale Gerichte verpflichtet sind, dieses Grundrecht direkt anzuwenden.
Keine Anwendbarkeit des § 10 Abs 2 UrlG hinsichtlich vierwöchigen Urlaubs
Auf dieser Basis sprach der OGH der Klägerin einen grundsätzlichen Anspruch auf Urlaubsersatzleistung zu. Allerdings schränkte er diesen Anspruch dahingehend ein, dass die Urlaubsersatzleistung nur auf Basis des in den europarechtlichen Vorgaben vorgesehenen vierwöchigen Urlaubsanspruchs zustehe.
Der OGH geht somit nicht von einer generellen Unanwendbarkeit des § 10 Abs 2 UrlG aus:
Lediglich im Bereich des 4-wöchigen europarechtlichen Mindesturlaubsanspruches ist § 10 Abs 2 UrlG nicht anwendbar; für den gemäß den österreichischen Bestimmungen darüber hinausgehenden offenen Urlaubsanspruch muss bei unberechtigtem vorzeitigen Austritt weiterhin keine Urlaubsersatzleistung gezahlt werden.
Anspruch auf Urlaubsersatzleistung bejaht
Im konkreten Fall musste daher der Dienstgeber der Dienstnehmerin den noch offenen Resturlaub (auf Basis von 4 Wochen) trotz unberechtigten vorzeitigen Austritts bezahlen.
Mag. Seyfullah Cakir